Ein großes Tor bildet den Eingang zum Barrio Chino, dem Chinesenviertel von Havanna. Es befindet sich in der Nähe vom Capitolio, dem wohl bekanntesten Bauwerk der kubanischen Hauptstadt. Doch wie viel “China” steckt eigentlich in dem Quartier? Eine Spurensuche in Havannas Chinatown.
Alte Autos brausen durch die Entrada del Barrio Chino, das Tor zum Chinesenviertel. Es handelt sich um Máquinas, private Sammeltaxis, die als Teil des öffentlichen Nahverkehrs von Havanna feste Routen befahren. Aber auch Touristen sind mit museumsreifen Kisten unterwegs, sie erfüllen sich so ihren ganz eigenen kubanischen Traum. Zwischen Parque Central und Havannas berühmter Uferpromenade, dem Malecón, oder Vedado, dem modernen Teil der Hauptstadt, und eben Chinatown lassen sie sich in herausgeputzten US-Oldtimern aus den 1950er Jahren herumkutschieren.
Die Calle de los Dragones, die Straße der Drachen also, führt, zunächst seitlich vorbei am Kapitol, schließlich mitten hinein ins chinesische Viertel, hinter dem mächtigen Eingangsportal verzweigt sie in die Calle Zanja.
Inhalte
Yin und Yang im Chinesenviertel
Hier und da finden sich Yin-Yang-Symbole in den Straßen. Yin und Yang, das chinesische Sinnbild für ausgeprägte Gegensätze wie etwa: hell und dunkel, heiß und kalt, männlich und weiblich oder Tag und Nacht. Und wenngleich alles auf den ersten Blick höchst unterschiedlich wirkt, so ergänzen sich diese Kontraste doch vortrefflich. Das eine nämlich kommt ohne das andere nicht aus, und nicht nur das, manche Gegensätze ziehen sich geradezu magisch an. Das Gleichgewicht unterschiedlicher Kräfte ist daher das Geheimnis, die Zauberformel für Glück und Vollkommenheit.
Ganz schön schlau also diese chinesische Philosophie und ihre Lehren haben Einfluss auf vielfältige Ausprägungen chinesischer Kultur, bis hin zur berühmten Heilkunde aus dem Reich der Mitte. Yin und Yang also auch in Havanna, keine Frage, das ist typisch chinesisch und somit durchaus vielversprechend. Und dennoch, ein paar Symbole werden doch sicher nicht alles sein im Chinesenviertel von Kubas Hauptstadt?
Konfuzius in Kuba
Gäbe es ein bekannteres und größeres Wahrzeichen für das Riesenreich als die Chinesische Mauer? Und taugt nicht auch der vielzitierte Konfuzius als Stellvertreter für das Milliardenvolk der Chinesen? Beides zusammen vereint zeigt nämlich ein großes Wandgemälde in der Calle Zanja.
Auf dem Mural wandelt Konfuzius über den viele Tausend Kilometer langen Grenzwall. Ist dieser Weg, der Marsch über die Große Mauer, etwa das Ziel, getreu dem bekannten Ausspruch des populären Philosophen? Der jedoch dürfte damals anderes im Kopf gehabt haben, als auf dem späteren Weltkulturerbe entlang zu spazieren. Zu Konfuzius´ Zeit, vor rund 2500 Jahren, steckte das riesige chinesische Reich nämlich im Bürgerkrieg, es herrschten Chaos und Tyrannei. Und Konfuzius, der zuvor die alten chinesischen Gelehrten studiert hatte, tüftelte an Ideen, wie die Ordnung im Land wieder herzustellen sei. Kluge Sachen kamen dabei heraus – klar, ansonsten wäre uns der Name des Mannes wohl kaum ein Begriff nach all der Zeit.
Auf den Umgang mit sich selbst sollten die Menschen achten, so das Credo des Denkers Konfuzius. Moralisches Handeln, Freundlichkeit und Pflichtbewusstsein seien dabei wichtig, Bildung, Tugendhaftigkeit und Fleiß zudem eine unabdingbare Basis.
Fußball im Parque Shanghai
Von der Jahrtausende alten chinesischen Philosophie nun aber wieder zurück ins nur 500 Jahre “junge” Havanna. Das angesichts bröckelnder Fassaden und einsturzgefährdeter Häuser jedoch alles andere als frisch und jugendlich daherkommt.
Noch immer in der Calle Zanja, nur wenige Meter weiter, befindet sich eine kleine Parkanlage, wo wir erneut auf einen Bekannten treffen. Wieder ist es Konfuzius, diesmal in Form einer Statue, während ein großes Yin-Yang-Symbol für den ebenfalls “authentisch-chinesischen” Hintergrund an einer Hauswand sorgt. Was gibt es hier noch? Ein bisschen Grünzeug, daneben eine betonierte Fläche und auch einige Bänke, nichts spektakuläres also. Großer Beliebtheit erfreut sich das Terrain ganz offensichtlich bei ein paar kleinen Kickern, flink jagen die Burschen ihrem Ball hinterher. Der Parque Shanghai, so der Name des Ortes, als Bolzplatz, nun ja, warum auch nicht?
Fußball hin, Fußball her, sobald ich den Park betrete, unterbrechen die Buben ihr Spiel, um vor dem Sockel mit der Konfuzius-Figur zu posieren – dabei habe ich die Kamera noch nicht einmal ganz ausgepackt. Aber kein Problem, das spontane Fotoshooting ist schnell erledigt, worauf die Kids das Interesse an mir wieder verlieren. Weiter geht es stattdessen mit der wilden Bolzerei, während ich mich nun in Ruhe einem Schild widme, das die Ballartisten zuvor verdeckt hatten.
Der Stifter der Statue ist Dr. Tong Yun Kai und der ist Präsident der Konfuzius-Akademie in Hongkong, erfahre ich. Außerdem scheint der Mann über reichlich Kohle zu verfügen. Das steht zwar nicht auf dem Schild, ist aber das Ergebnis weiterer Recherchen. Über 150 Millionen Hongkong-Dollar hat Dr. Tong gespendet, um die Philosophie des Konfuzius zu fördern, wahrhaftig kein Pappenstiel. Dank seiner Schenkungen wurden mehr als 500 Skulpturen in aller Welt errichtet – eine davon steht nun auch im Parque Shanghai von Havannas Chinatown. Im Übrigen erst seit 2012 und der Doktor aus Hongkong hatte es sich nicht nehmen lassen, höchstpersönlich zur feierlichen Konfuzius-Enthüllung nach Havanna zu kommen – freundliche Worte im Gepäck, wie es üblich ist bei solchen Anlässen. Von kubanischer Seite hingegen wurde bei der Gelegenheit insbesondere die Integration der Chinesen über mehrere Generationen gelobt. Nur: Wo stecken die eigentlich?
Wo stecken Havannas Chinesen?
Ganz schön viel Konfuzius also bisher, es ist daher an der Zeit, weiter zu forschen. Zu schauen, wo es noch mehr “China” in Havanna gibt. Und vor allem, um die Chinesen aufzuspüren, denn: ohne Chinesen keine Chinatown! Als nächstes stecke ich meine Nase in einen Friseursalon – Wandmalerei, chinesische Schriftzeichen und ganz viel Rot, die chinesische Farbe des Glücks und des Lebens, hatten mich neugierig gemacht. Aber, trotz Deko im China-Style, bei den freundlichen Herren, die hier ihres Amtes walten, handelt es sich ganz offensichtlich um waschechte Kubaner.
Papier und Bruchdruck wurden in China erfunden, die nächste Station kommt daher gerade recht. Hier geht es um Druckwaren, Papiererzeugnisse unterschiedlicher Art. Dazwischen wieder chinesische Schriftzeichen, diesmal auf Fähnchen. In Rot und auch in Gold, das ebenfalls ein Symbol für Glück, aber auch für Kraft, Macht und Weisheit ist, und daher auch die Farbe chinesischer Kaiser. Alte Geräte wecken mein Interesse in dem Geschäft, eines entpuppt sich als Linotype-Setzmaschine von 1911, also bereits seit mehr als 100 Jahren im Einsatz. Der Erfinder ist Ottmar Mergenthaler, gebürtig in Süddeutschland und im Alter von 18 Jahren in die USA ausgewandert, es handelt sich also um US-amerikanisch-deutsche Wertarbeit. Mergenthaler sorgte Ende des 19. Jahrhunderts für mächtig Furore, 1889 war seine Maschine eine Sensation auf der Pariser Weltausstellung und ein neues Zeitalter der Drucktechnik brach an. Eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte, die sich noch weiter ausführen ließe, entfernten wir uns damit nicht allzu sehr vom eigentlichen Thema. Es geht schließlich noch immer um Havannas Chinatown.
Kampfsport im Barrio Chino
Wird die Spur nun endlich heißer? In einer Seitenstraße stoße ich auf die Escuela Cubana de Wushu, eine Schule für chinesische Kampfkunst mit einem großzügig bemessenen Außenbereich. Bemerkenswert viele Leute sind hier morgens aktiv, um sich in unterschiedlichen Techniken zu üben, mit oder ohne Waffe. Doch wie ein Chinese oder eine Chinesin sieht kaum jemand aus. Die Ausnahme bildet ein älterer Herr. Das ist mein Mann, den werde ich mir schnappen und mit Fragen löchern – es ist Zeit, den Geheimnissen von Havannas Chinatown auf den Grund zu gehen!
1949 hatte es eine letzte Welle chinesischer Einwanderer gegeben, nachdem bereits Ende des 19. Jahrhunderts viele Emigranten aus dem Reich der Mitte die Gegend um die Calle Zanja zu einem typisch-geschäftigen Chinesenviertel gemacht hatten. 1949 hatte nämlich der Kommunist Mao Zedong (auch Mao Tse-tung geschrieben) die Macht übernommen, Grund genug für viele Chinesen, Reißaus zu nehmen mit Blick auf die zu erwartenden Folgen. Und ganz sicher auch die richtige Entscheidung, denn die Zeit der Diktatur des Großen Vorsitzenden Mao war gekennzeichnet durch Enteignungen, Arbeitslager und viele Millionen Tote. Unter den Auswanderern befand sich damals auch der Vater meines sympathischen Gesprächspartners, der mir nun bereitwillig Auskunft gibt.
Serafin Chuit ist Schachspieler und wurde 1950 in Havanna geboren, sein Vater hatte eine Kubanerin geheiratet. Schach erfreut sich in Kuba enormer Beliebtheit, es gibt eine große Zahl (schlechtbezahlter) Profis, einen hatte ich bereits in Bayamo kennengelernt. Und auch in den Straßen sieht man häufig Leute beim konzentrierten Schachspiel. Typisch kubanisch also die Leidenschaft des Mannes mit den chinesischen Wurzeln und der Name Serafin deutet ja nun auch nicht auf seine Abstammung hin. In Kuba habe man Wert auf spanische Namen gelegt, so die Erklärung, die ich umgehend einhole – heute würde man so etwas wohl Integrationsmaßnahme nennen.
Die Geheimnisse von Havannas Chinatown
Und wo stecken nun die Chinesen im eigentlichen Chinesenviertel der kubanischen Hauptstadt? Wenn es einer weiß, dann Serafin, der ist schließlich hier zu Hause. Tatsächlich gebe es noch etwa eine Handvoll “echter” Chinesen in Havanna, alle so um die 90 Jahre, weiß dieser zu berichten. Vielleicht seien es auch ein Dutzend, mehr aber nicht, denn alle anderen seien ja abgehauen. Den Grund für die erneute Flucht lieferte diesmal der inzwischen verstorbene Fidel Castro. Zwar hatte der dem kubanischen Volk Freiheit und Demokratie versprochen, wollte davon jedoch, nachdem er 1959 an die Macht gelangt war, nichts mehr wissen.
Die Chinesen, erst vor Mao davongelaufen, waren also vom Regen in die Traufe gekommen – auch in Kuba sollten von nun an tausendfache Hinrichtungen, Bespitzelung und Kontrolle an der Tagesordnung sein. Hinzu kam die katastrophale Wirtschaftspolitik der ehemaligen Revolutionäre um Castro und “Che” Guevara, die sich nun als Politiker versuchten, auch hier begleitet von Enteignung und Verstaatlichungen. Sie sorgte, neben dem US-Embargo, für eine Mangelversorgung, die bis heute andauert, mal mehr, mal weniger dramatisch. Die schlauen Chinesen hatten sich rechtzeitig abgesetzt, vor allem in die USA, aber auch nach Panama oder andere Länder Lateinamerikas.
Auf meine Frage, warum seine Familie denn nicht auch fortgegangen sei, schmunzelt Serafin. Man habe sich erst nicht einigen können, da sie ja jeweils zur Hälfte chinesisch und kubanisch gewesen seien – die einen wollten weg aus Kuba, die anderen jedoch wollten bleiben. So sind sie schließlich geblieben. Und wie sieht es mit Serafins Verhältnis zur Heimat seiner Vorfahren aus? 2013 ist er dort zu Besuch gewesen, jedoch habe ihm das neue China überhaupt nicht gefallen mit seinen Hochhäusern und der ganzen Umweltverschmutzung. Umso größer sei sein Interesse jedoch am alten traditionellen China, etwa an der Philosophie und der Medizin.
Chinesisches Essen ist unser letztes Thema, schließlich gibt es in der Chinatown von Havanna eine ganze Reihe Restaurants. Er selbst müsse aufpassen, erzählt Serafin Chuit, da er Diabetiker sei. Für Suppen, Reis und typische Gemüsegerichte habe er aber trotzdem eine Vorliebe. Ob er denn auch einen Restaurant-Tipp habe, will ich wissen. Klar, das sei nicht schwer, es gebe schließlich nur ein einziges Lokal, in dem wirklich chinesisch gekocht werde, nämlich das Tien Tan. In allen anderen kochten Kubaner, das sei eben nicht original chinesisch. Zurzeit ist jedoch geschlossen, die kleine Restaurant-Meile in der Calle Cuchillo wird renoviert, Grund ist der anstehende 500. Geburtstag der kubanischen Hauptstadt. Die privaten Betreiber der Gaststätten hätten im Übrigen ein gutes Verhältnis zum Staat, der wiederum trage 80–90 Prozent der Kosten dieser Verschönerungsaktion.
Ein echtes China-Restaurant
Am letzten Tag meines Aufenthaltes führt mich der Weg noch einmal in die Gegend. Und siehe da, während draußen überall noch gewerkelt wird, hat das Restaurant Tien Tan bereits wieder geöffnet. Sehr kreativ sind die Maßnahmen, mit denen man versucht, mir den Besuch schmackhaft zu machen. Zur äußerst umfangreichen Karte werden die passenden Essensbildchen auf dem Smartphone serviert. Dazu wedelt der junge Mann mit der abgewetzten Ausgabe eines bekannten Reiseführers, der das Tien Tan lobend erwähnt. Trotz dieses multimedialen Marketings, ich habe andere Pläne für meinen letzten Abend in Havanna. Werfe jedoch geschwind einen Blick in die Küche, ein “Beweisfoto” vom chinesischen Küchenchef und seiner Crew muss wenigstens sein.
Mogelpackung Chinatown
Ein einziges echtes China-Restaurant, dazu ein paar weitere, die sich dafür ausgeben. Ein bisschen Konfuzius hier, ein wenig Yin-Yang da. Außerdem die 1995 gegründete Wushu-Schule mit ihrer traditionellen Kampfkunst. Das ist es, was Havannas Chinesenviertel ausmacht. Auch das Eingangstor namens “El Pórtico de la Amistad” wurde übrigens erst 1999 errichtet – etliche Jahrzehnte also, nachdem die Chinesen das Land längst verlassen hatten. Aber wer weiß, vielleicht kehren sie ja eines Tages zurück. Dann nämlich, wenn es den Menschen in Kuba gelingt, sich endlich vom Joch der kommunistischen Diktatur zu befreien. Zumindest so lange jedoch wird man hinter der mächtigen Pforte statt einer typisch-lebendigen Chinatown à la New York oder Bangkok vor allem eines finden: eine große Mogelpackung!
Havannas Chinesenviertel auf einen Blick
Wo befindet sich Havannas Chinatown?
Auf der linken Seite vom Capitolio führt die Calle de los Dragones durch das große Tor und geht rechterhand anschließend in die Calle Zanja über.
Lohnt sich der Besuch des Chinesenviertels?
Möglicherweise wird es überraschen, aber auch ohne Chinesen lohnt sich der Besuch von Havannas Chinatown. Centro Habana, wozu nämlich auch das Barrio Chino mit dem eher geringen “Chinafaktor” gehört, ist immer einen Besuch wert. Es handelt es sich um den am dichtesten besiedelten Teil Havannas, Centro Habana ist das Herz der kubanischen Hauptstadt. Ein spannendes Ziel daher für Besucher, die Land und Leute wirklich kennenlernen wollen und mehr sehen möchten als eine für Touristen herausgeputzte Fassade.
Restaurant-Tipps für Havannas Chinatown
- Das einzige “echte” China-Restaurant: Tien Tan, Calle Cuchillo # 17
- Mein “Geheimtipp”: Me gusta, Calle San Nicolás # 501, frisch und modern und so ist auch das Angebot an Speisen (hier ein Blick in die Karte), Empfehlung für Leckermäuler: Batido de Helado, ein Milchshake auf Eisbasis
Wushu: Chinesische Kampfkunst
Die Escuela Cubana de Wushu (Website) befindet sich in der Calle Manrique # 507 (einer Seitenstraße der Calle Zanja). Um die Übungen dort zu beobachten, empfiehlt sich ein Besuch am Morgen.
0 Kommentare zu “Hinter den Kulissen von Havannas Chinatown”